Beitrag: Thomas Baer, Redaktion ORION
Galaxien sind keine «einsamen» Objekte, sondern gruppieren sich in grösseren Haufen. Grosse Haufen können gut und gerne einige tausend Einzelgalaxien beherbergen, die mit bis zu 1’000 km/s um einen gemeinsamen Schwerpunkt des Systems kreisen. Am Frühlingshimmel können wir mit dem Virgo-Galaxienhaufen und dem wesentlich weiter entfernteren Coma-Haufen gleich zwei solche Galaxienverbände teleskopisch beobachten.
Heute gehen die Astronomen davon aus, dass sich schon wenige Millionen Jahre nach dem Urknall Galaxienhaufen bildeten. Dies lassen Beobachtungsdaten der Weltraumteleskope Planck und Herschel vermuten. Demnach sollen in den «jungen Galaxien» neue Sterne fast «explosionsartig» entstanden sein. Galaxien sind keine Einzelgänger, sondern formieren sich zu ganzen Systemen. Doch noch immer rätseln die Wissenschaftler über die genaue Entstehung und Entwicklung dieser Galaxienhaufen, und auch die Rolle der Dunklen Materie ist unklar.
Grosse Galaxien zählen ohne weiteres über eine Billion Sterne und haben gewaltige Durchmesser von mehr als 100’000 Lichtjahren. Um uns die Dimensionen eines Galaxienhaufens einmal vor Augen zu führen, dient eine Modell-Vorstellung: Wenn wir unsere eigene Milchstrasse auf eine 10 Rappen Münze schrumpfen lassen, wäre in diesem Massstab die Andromeda-Galaxie 250 m entfernt und etwa so gross wie etwa ein Zweifränkler! Der Virgo-Galaxienhaufen hat eine Ausdehnung von rund 9 Millionen Lichtjahren. In unserem Modell wäre dies ein Raum von 900 m Durchmesser. Der Coma-Haufen ist mit 20 Millionen Lichtjahren Durchmesser wesentlich grösser und wäre mit einer Entfernung von 300 Millionen Lichtjahren in unserem Modell 30 km entfernt!
In einer sternarmen Gegend beheimatet
Die beiden Galaxienhaufen befinden sich in einem eher sternarmen Gebiet; der Virgo-Haufen zwischen Löwe (Stern Denebola) und der Jungfrau, der Coma-Haufen nur unwesentlich nördlicher, im unscheinbaren Sternbild Haar der Berenike, das vom Löwen im Westen und dem Bärenhüter im Osten flankiert wird. Von blossem Auge kann man zumindest den Virgo-Haufen bei exzellenten Sichtverhältnissen an dunklen Orten und in mondscheinlosen Nächten erahnen.
Charles Messier, der im 18. Jahrhundert den Himmel durchmusterte, um Verwechslungen mit neu auftauchenden Kometen auszuschliessen, fand im Februar 1771 an besagter Stelle mit der Riesengalaxie M49 das erste Mitglied des Virgo-Galaxienhaufens. Auch Pierre Méchain suchte nach Objekten in jener Gegend, die Messier in seinen Katalog aufnahm. So kamen nicht weniger als 16 «Nebel» zusammen, die heute als Mitglieder des Virgo-Haufens identifiziert sind. Schon zu seiner Zeit erkannte Messier, dass es sich bei den entdeckten Objekten nicht um Sterne, sondern um Nebel handeln musste, und er äusserte gar die Vermutung einer Gruppe. Heute schätzen die Wissenschaftler zwischen 1’300 und 2’000 Galaxien in einer Entfernung von etwa 54 Millionen Lichtjahren. Zum Vergleich: Die Andromedagalaxie ist «nur» 2.5 Millionen Lichtjahre von uns entfernt. Messier konnte die wahre Natur der Nebel damals noch nicht erkennen. Erst anderthalb Jahrhunderte später gelang die erstmalige Beobachtung von Einzelsternen in der Andromedagalaxie.
Am Himmel bedeckt der Virgo-Haufen ein Gebiet von etwa 8° Ausdehnung an der Grenze zwischen Jungfrau und Haar der Berenike. Dank des Weltraumteleskops Hubble konnte man 1994 erstmals Cepheiden-Sterne in den Galaxien auflösen. Bei diesen Sternen handelt es sich um pulsationsveränderliche Sterne, die eine regelmässige Helligkeitsschwankung zeigen. Mit Hilfe der Perioden-Leuchtkraft-Beziehung war es daher möglich, die Entfernung des Virgohaufens auf 65 Millionen Lichtjahre zu ermitteln und den Durchmesser der Galaxiengruppe auf rund 9 Millionen Lichtjahre zu berechnen. Galaxienhaufen bilden keine abgeschlossenen Systeme und haben keine klaren Grenzen. Vielmehr sind sie gar verbunden und ihre Ausläufer gehen nahtlos in die Struktur des Superhaufens über, vermuten die Wissenschaftler.
Die einzelnen Galaxien, die einen Haufen formen, so der Stand der Forschung, sind gravitativ gebunden und bewegen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in einem gemeinsamen Schwerefeld. Beobachtungen zeigten beim Virgo-Haufen eine Diskrepanz: Dieser «leuchtet» für seine errechnete Masse viel zu schwach, was ein Hinweis darauf wäre, dass Dunkle Materie den Hauptanteil an Masse ausmacht. Die Galaxienforscher nehmen an, dass rund 80 % der Gesamtmasse in Galaxienhaufen auf die Dunkle Materie entfallen, während verbleibende 15 % aus 10 bis 100 Millionen K heissen Gasen bestehen und nur 5 % «sichtbare Masse» in Form von Sternen (und Planeten) sind. Häufig befindet sich im Zentrum eines Galaxienhaufens eine riesige elliptische Riesengalaxie, während kleinere Galaxien wie Satelliten um dieses Ungetüm herumwandern. Im Falle des Virgo-Haufens ist es M87, eine ausgesprochen aktive Galaxie, bekannt auch als Radioquelle Virgo A oder als Röntgenquelle Virgo X-1. Ihre Ausmasse sind gigantisch: Die Astronomen schätzen ihren Radius (!) auf 100’000 Lichtjahre und gehen von 2 bis 3 Billionen Sonnenmassen aus. Seit 2019 weiss man, dass sich im Zentrum von M87 ein supermassereiches Schwarzes Loch befinden muss. Auf Aufnahmen des Hubble Weltraumteleskops ist nämlich ein 5’000 Lichtjahre langer energiereicher Jet zu sehen, der auf die Existenz eines solchen Objekts hindeuten würde.
Der Coma-Haufen beherbergt mit NGC 4889 eine riesige elliptische Galaxie, und ungewöhnlicherweise noch eine zweite, nämlich NGC 4874. Diese beiden Riesengalaxien werden von zahlreichen kleineren Galaxien umgarnt. In Bereichen, wo das Ur-Universum nur geringe Dichteschwankungen zeigte, beobachten wir Galaxien, die nicht eindeutig an ein gravitatives Zentrum gebunden sind, sogenannte «Feldgalaxien».
Dank seiner günstigen Lage ist das Sternbild Haar der Berenike geradezu prädestiniert für Galaxienbeobachtungen. Der galaktische Nordpol befindet sich in dieser Konstellation, und so können wir sowohl «gebundene» wie auch «freie» Galaxien beobachten, da wir aus der Ebene unserer Milchstrasse hinausblicken, wo uns kaum Gas- und Staubwolken die Sicht nehmen. So sehen wir in die Richtung von Virgo- und Coma-Haufen Galaxien, die in Entfernungen von 20 bis 40 Millionen Lichtjahren liegen. Aber selbst in den Ausläufern des Virgo-Haufens zwischen 50 und 70 Millionen Lichtjahren lassen sich Galaxien beobachten. Der eigentliche Coma-Haufen liegt 300 bis 450 Millionen Lichtjahren Distanz «dahinter». In den vergangenen Jahrzehnten konnten in der hier beschriebenen Region sogar jenseits dieser Haufen noch fernere Galaxienstrukturen gefunden werden. Ein nur 3° grosser Ausschnitt des Palomar Observatory Sky Survey aus dem Haar der Bernike bildet nicht weniger als 7’000 Galaxien ab, die kaum heller als +21mag sind.
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